Nachtlehrgang (06/2005)

Der Karatelehrgang (Eine Momentaufnahme während des letzten Laufs) Mein Körper fühlt sich an wie ein Wrack. Meine Fusssohlen wissen und kennen momentan nur eins: Kiesel, spitze Kiesel. Hart, kalt und nach oben hin kantig. Ob nun tausend nebeneinanderliegen und ich darüber muss, oder ob die Kiesel einzeln aus platter kühler Erde hervorstechen, ob sie einaspaltiert sind - meine Fusssohlen kennen Kiesel. Man soll nicht drüber nachdenken, wenn man drüberläuft. Das Laufen funktioniert einfach, sagt Babak, es ist eine Meditation, ob man nun barfuss geht oder rennt, in diesenWäldern und auf den Strassen und Wegen in Köln. Wenn man drauf achtet und darüber nachdenkt, trifft der Fuss wie magnetisch auf Glasscherben. Wenn du nicht darüber nachdenkst, führt dich deine Intuition daran vorbei. Der Schmerz kommt und geht, sagt der Trainer. Guckt ihn euch an, fasst ihn an und lasst ihn wieder los. Es ist der klarste und kräftigste Morgen, an den ich mich erinnere. Die Junisonne ist schon seit einiger Zeit am Himmel, anders als wir: Wir haben bei diesem Lehrgang über Nacht von vier bis viertel vor sechs eine Pause eingelegt, und einige haben versucht, den überanstrengten Körper zum Schlafen zu bewegen. Mein Schlafsack brannte, meine Haut lag förmlich in Wasser. Einer schnarchte mit einem Summton, wie eine Heulboje, und andere wälzten sich herum, genau wie ich. Der Morgen ist stark, fast saftig: Sonne und Wind, über den Wiesen und der Erde sind noch letzte Spuren einer kühlen und feuchten Sommernacht. Leute gucken, und es ist uns egal. Wir sind die, die sich freiwillig ausgesucht haben, die letzte Einheit mit Dirk zu machen. Freiwillig. Wir sind die Starken. Wir müssen jetzt auch stark sein. Zurückbleiben gibt es nicht. Gibt es einfach nicht. Ich sage mir: Lauf, Petra, und denk nicht daran, dass du dich besser anders entschieden hättest. Es war ein Impuls, mitzukommen - ein Impuls, der anscheinend von der Tatsache mit meinem gebrochenen Zeh nichts wissen wollte. Der Impuls hat schon seine Richtigkeit, beruhige ich mich. Was ist, wenn ich es wirklich schaffe? Warum gehe ich eigentlich davon aus, es nicht zu schaffen? Ich hefte meinen Blick auf den Gürtel von Sabine vor mir und halte mich ganz an die Ratschläge von Babak von heute nacht: die halbstündige Gehmeditation Grüngürtel, barfuss. Unter dem Bauchnabel denkt euch, sagte Babak, eine Lampe. Die geht an, wenn ihr einatmet, und wenn ihr ausatmet, geht sie auch an. Fantastisch, dieses Bild. Sieh mal, die Lampe geht immerzu an, denke ich beim Laufen, beim Stechen der Steinspitzen unter den Füssen und bei der Verzweiflung, wie lange das noch gehen wird. Denn es ist erst der Anfang, wir sind ja erst losgelaufen. Das kann man nicht schaffen. Dirk wird uns fürchterlich triezen und es ist erst der Anfang und ich kann nicht aufgeben, ich kann hier nicht raus. Die Lampe geht an, und beim Ausatmen geht sie wieder an. Sie ist da. Sie ist so real, es ist der Wahnsinn. Die Lampe ist da, das ist ja quasi das, was mich am Leben hält, und ihr ist der Schmerz egal, sie wird deshalb nicht schwächer. Ich versuche, Ruhe in meine Gedanken zu bringen. So, dass man, wenn Gedanken laut wären, kein Geplapper mehr hören würde. Und mir fällt ein, was Martin sagte, als ich mir mit ihm die Wartezeit im Krankenhaus vertrödelte, um wegen meines gebrochenen Zehs geröntgt zu werden. Er erzählte von dem Zwölf-Stunden-nicht-trinken-Lehrgang. "Das würde ich nie machen, nie, nie, nie", war mein Kommentar dazu. "Denn das ist ja wie Folter." Aber Martin sagte: Du vertraust dem Lehrer ja. Du vertraust dich dem Lehrer an, und er hat die Verantwortung für dich. Es fällt mir nicht leicht, Dirk das Vertrauen entgegenzubringen, das dieses kilometer- und stundenlange Laufen hier gerade erfordert. Er wird nichts tun, was mir schadet. Aber was ist mit meinem Fuss? Ich habe die Verantwortung für meinen Körper und vertraue mich meinem Trainer an. Wo ist die Grenze? Zwischen: vertrau ruhig, es wird dir nichts passieren, geh das Wagnis ein, zu vertrauen und: das ist deine Verantwortung, also wenn ich du würde, würde ich das nicht machen, oder: Du bist ja bescheuert, mit einem gebrochenen Zeh rumzulaufen, niemand anders würde das tun. Das ist ein sehr interessanter Punkt aber hilft überhaupt nichts. Ich denke also: Scheiße man, ich bin zwar echt sauer auf diesen Typen (meinen Trainer) und auf die Situation, aber ich vertraue jetzt mal. Ich werde entspannter und heiterer, und eine Sekunde später dreht sich Dirk in der ersten Reihe um und sagt: "Wenn jemand nicht mehr kann und zurückbleibt, geht er hier in diesen Park und läuft solange, bis wir dorthin zurückkommen, Kata. Das dauert noch `ne Stunde oder so." Schließlich ist mir nichts passiert. Es ist ein Wunder, mein Körper fühlt sich einerseits gestählt und andererseits (und vor allem) lädiert und wrackartig an - aber mein Zeh tut nicht mehr weh als vorher. Meine Hände jucken abartig von den merkwürdigen Insektenstichen, die wir uns auf dem ganzen Körper bei unserem Zwischenstopp in einem Tal im Grüngürtel geholt haben. Um die Stiche hat sich die Haut dunkelrot gefärbt. Naja, zur Not muss man Montag mal zum Hautarzt.